online am 13. Dezember 2017

Vater Baum

Als ich noch Kind war, gab es in der Nähe unseres Hauses, am Anfang eines großen Waldgebietes, einen uralten, riesigen Baum, eine Ulme. Ein Blitzschlag hatte den Baum dereinst verkrüppelt, aber trotzig breitete er sein Blätterdach über den Waldboden. Gerne ging ich zu ihm und erzählte ihm, was ich den Tag über gemacht hatte. Da ich keine Geschwister hatte, wurde er allmählich so etwas, wie mein großer Bruder. Doch eines Tages vernahm ich, versteckt im Rauschen der Blätter, eine Stimme. Zuerst verwaschen und undeutlich, aber meine jungen Ohren gewöhnten sich rasch an seinen Klang. Kein Zweifel, es waren Worte:
„Kind, ich spüre, dass du mich magst und mir vertraust. Das tun nicht mehr viele von euch Zweibeinern. Nun ist es an der Zeit, dir drei Wünsche zu erfüllen. Aber nicht jetzt, überlege lange und komme wieder, wenn du dir sicher bist. Wir Bäume haben Zeit, viel Zeit…“
Ich wollte noch etwas sagen, aber ich merkte, dass die Stimme sich wieder in das Rauschen von Blättern und Wind verloren hatte.
Ich dachte viel nach, sehr viel und oft auch in seinem Schatten. Will ich Spielzeug, will ich was zu naschen oder will ich schnell wachsen? Ich blickte zu ihm auf und sah seine angekokelte Borke und seinen krummen Wuchs. Er ist bestimmt alt, dachte ich, er weiß bestimmt viel über das Leben. Und er steht auf seinen Wurzeln, obwohl er doch verwundet ist. Und er scheint freundlich zu sein, obwohl ihn nicht viele mögen. Vielleicht sagt er es mir oder besser: ich wünsche mir, so wie er zu werden.
Eines Tages flüsterte ich dem Baum meine Wünsche in die Rinde und ich vernahm ein Brummen und Knarren und bald darauf seine vertraute raschelnde Stimme:
„Deine Wünsche sind sehr klug und ich freue mich, sie dir zu erfüllen. Aber du musst dir ein wenig Zeit nehmen.“
Und so geschah es: er lehrte mich zu sehen, er lehrte mich zu stehen und er lehrte mich zu gehen.

Viele Jahre später kam ich als verliebter, junger Mann mit ihr zu ihm zurück und wir fanden ein Messer vor dem Baum auf dem Boden liegend und wir ritzten ein Herz und unsere, zwei Namen in sein Holz und ich hörte sein freudiges Brummen.
Das ist nun schon lange her und mein Vater, der Baum ist vor kurzem gefällt worden. Doch ich bin mir sicher, er wird irgendwann aus einem Möbelstück zu mir sprechen.

Marius Schmieda


online am 13. Novemberi 2017

Rolli-Joggen – Teil 3

Es regnet. Der perfekte Grund um das Rolli-Joggen ausfallen zu lassen. Das war gestern.
Heute ist es trocken, aber die Wolken sehen so aus, als wenn sie gleich losheulen. Es gibt noch einen Grund, warum ich nicht rolli-joggen möchte. Mein MS-Körper fühlt sich schlapp, zerschlagen, kaputt und … an, eben wie ein MS-Körper, der sagt „Du kannst heute nicht!“
„Kannst Du nicht oder willst Du nicht?“
Täglich nur 30 Minuten und nach einer Woche Ausreden erfinden? Ich kann, ich will, ich muss!
Zur Strafe rolli-jogge ich heute 50 Minuten!

Es lebe der Sport!

Maria Eifrig, Mai 2017


online am 02. November 2017

Die Neuen!

Die Katzen!
Unsere Katzen, Flecky und Blacky,  waren acht Wochen alt, als wir sie vom Bauernhof zu uns nach Hause holten. Sie waren 16 Jahre lang unsere treuen Begleiter, bevor der Katzenhimmel sie aufgenommen hat. Nach einem Jahr ohne Katzen haben wir beschlossen unser Leben wieder mit zwei Vierbeinern zu teilen. Wir fahren zum Tierheim. In einem ca. zwei qm großen Raum sind untergebracht: Kallisto, die schwarz weiße Diva, geschätzt zwei Jahre alt und der schwarze, immer liebe Panther, geschätzt ein Jahr alt, beides Fundtiere. Wir bekommen Zeit sie kennenzulernen. Kallisto hat mich  erwartet. Sie springt auf meinen Schoss, macht es sich gemütlich und leckt mit ihrer rauen Zunge den Rücken meiner linken Hand. Sie hat keine Angst, nicht vor mir und nicht vor meinem Rollstuhl. Ich glaube, sie mag mich!

Panther, ein vorsichtiger, schüchterner Kater, freundet sich mit meinem Mann an. Gegen Streicheleinheiten hat er nichts einzuwenden. Sie verstehen sich gut. Meinem Mann gefällt das schwarze Tier mit den grünen Augen. Ich glaube, er mag ihn!

Wir zahlen den Preis für die Tiere, stecken sie in Transportkisten und fahren nach Hause. Die freigelassen Katzen stürmen unser Haus. Sie erforschen alles: Tische, Stühle, Sofa, Sessel, Schränke, Regale, Blumen, nichts ist vor ihnen sicher. Erst als ich im Bett liege, geben sie Ruhe. Kallisto kommt zu mir, wärmt meinen Bauch und schläft vor Erschöpfung ein. Seit diesem Tag verbringt sie fast jede Nacht mit mir im  Bett. Panther folgt meinem Mann ins obere Stockwerk.

Die Menschen!
Seit vier Wochen sind wir hier eingesperrt, Panther und ich, Kallisto, die Schönste. Menschen kommen, starren uns an und gehen wieder.
Panther liegt häufig auf seiner Decke und schläft. Wenn ich Lust habe, gehe ich in das kleine Außengehege, lasse mir den Wind um die Nase wehen oder wetze meine Krallen am Kratzbaum. Früher, kletterte ich auf Bäume, Zäune und Dächer, jagte Mäuse, Vögel und Kaninchen. Ich liebte es, mein Katzenleben.

„Was ist jetzt los, wieder neue Gaffer?“, frage ich.
„Woher soll ich das wissen!“, faucht Panther.
Die Frau sieht so anders aus. Sie sitzt auf etwas mit Rädern. Ich springe auf ihren Schoß. Er ist weich und bequem. Vorsichtig streichelt sie mein Fell, das gefällt mir. Zum Dank lecke ich ihre Hand.
„Panther, mach Dich an den Mann ran, schließlich wollen wir hier raus.“
Es dauert lange, bis er sich dem Mann nähert. Endlich schmusen sie miteinander.
Es wird ernst. Sie nehmen uns mit. Wir kommen in Transportboxen, werden in ein Auto verladen und die Fahrt beginnt. Nach einer Weile sagt eine Stimme im Auto: „Ziel erreicht.“
Sie bringen uns ins Haus und lassen uns frei.
„Miau, so viel Platz! Komm Panther, sehen wir uns das Haus an.“
„Ich habe Hunger. Siehst du, wo es was zu fressen gibt?“, fragt mich Panther.
Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hin soll  – Tische, Stühle, Schränke, Blumen, ein Klavier, ein Bett, … und Panther denkt nur an Futter.
„Miau, miau, so viel Neues!“
Das muss die Küche sein. Oh, eine Futterstelle für uns,  wie schön!
„Panther, hier gibt es Futter.“
Er kommt angeflitzt und haut rein.
„Oh, schmeckt das lecker!“
„Das wird ein schönes Zuhause“, stelle ich fest.
„Hoffentlich dürfen wir bleiben“, sagt Panther ängstlich.

Es wird ruhig. Das Licht geht aus.
„Ob ich mit ins Bett darf?“
Ich darf. Im Bett ist es warm und kuschelig.
Panther verschwindet mit dem Mann nach oben. Ich höre ihn zufrieden schnurren.

„Danke, dass Ihr uns mitgenommen habt! Ihr habt uns ein zweites Katzenleben geschenkt.“

Maria Eifrig, Dezember 2016


online am 18. Oktober 2017

Meine neue kleine Welt

Es gab viel Neues. Durch meinen Mann habe ich Anfang der achtziger Jahre die Welt der EDV kennengelernt. Mit „Learning by doing“ eignete ich mir den Umgang mit Computern an und lernte programmieren. Die Computer waren quantitativ größer und verfügten über viel weniger Speicherkapazität als heute. Unser erster Computer war so groß, dass ich ihn immer mit einem Gefrierschrank verglichen habe. Während den EDV-Verarbeitungsläufen konnte man in aller Ruhe eine Kaffeepause einlegen. Heute ist das anders. Nach dem Start eines EDV-Jobs wird nach wenigen Augenblicken das Ende der Verarbeitung angezeigt. Mit ein wenig Glück „schafft“ man einen Schluck Kaffee.

Es gab viel zu tun. Für die Einführung der EDV benötigten die Unternehmen individuell auf sie angepasste Software. Wir verschafften uns einen Überblick über die internen Arbeitsabläufe und ermittelten den EDV-Bedarf: Aufträge erfassen, Rechnungen schreiben, Finanzbuchführung, Statistiken, Mahnwesen usw. Wir erstellten und installierten Software, schulten Mitarbeiter im Bedienen der Programme vor Ort und unterstützten sie aus der Ferne  telefonisch.

Ich musste viel lernen. Mein Fachwissen in Finanzbuchführung und Personalwirtschaft kann sich sehen lassen. Handwerkskammern, Tiefbauunternehmen, Zeitungsverlage, Stahlhändler, Küchenhersteller und ein Bankhaus gehörten u.a. zu unseren Kunden. Eine Herausforderung waren/sind branchenspezifische Fachbegriffe – Lehrlingsrolle, Allgemeine Bauabrechnung, Beilagen, Biegeformen, Stücklisten, Zins- und Tilgungspläne usw. Die Inhalte mussten in benutzerfreundliche EDV-Programme umgesetzt werden. Fortbildung und Fleiß wurden so zu meinen häufigsten Begleitern.

Ich war viel unterwegs. Installation und Einweisung, der von uns erstellten Software, fand beim Kunden statt. Meine Dienstreisen führten mich quer durch Deutschland – von Eckernförde bis Berchtesgaden. Leider habe ich von den Orten nie viel gesehen. Zwischen Ankunft und Abfahrt blieb kaum Zeit für Privates. Die Tage beim Kunden waren vollgestopft mit Schulungen und Installationsarbeiten. Am Ende der anstrengenden Einarbeitungszeit wollte ich immer nur nach Hause.

Ich habe meinem Namen „Eifrig“ immer alle Ehre gemacht und tue das bis heute.

Ich hatte wenig freie Zeit. In den seltenen Ferien ging es zum Zelten nach Ameland, Schillig oder Texel, mit dem Flugzeug nach Mallorca, auf die Kanarischen Inseln und nach Florida, mein schönster Urlaub. Die Reise nach Kalifornien haben wir nicht mehr geschafft.

Sie kam, die Krankheit, die MS!

Ich sitze seit 2001 im Rollstuhl. Mein erster Elektrorollstuhl fuhr 6 km/h und hatte eine Reichweite von 15 km. Fünf Jahre musste ich mit diesem Hilfsmittel auskommen. Nach einem einjährigen Kampf mit meiner Krankenkasse ist es mir gelungen einen Rollstuhl der „gehobenen“ Klasse genehmigt zu bekommen, theoretische Reichweite 35 km – real ca. 20 km, Spitzengeschwindigkeit 10 km/h, ausgestattet mit einer Steh-, Liege- und Liftfunktion. Das macht das Leben im Rollstuhl ein wenig erträglicher.

Mit dem „Luxusrollstuhl“ erkunde ich meine Umgebung in einem Umkreis von ca. 10 km. Ich bevorzuge wenig befahrene Seitenstraßen oder Rad- und Wanderwege. Mittlerweile sind mir alle für Rollstuhlfahrer geeigneten Routen bekannt. Wenn das Wetter sich von seiner guten Seite zeigt, bin ich täglich ein bis zwei Stunden unterwegs. Manchmal wird ein Ausflug zur Shoppingtour. Ich kaufe Brötchen, Obst, Briefmarken oder andere Kleinigkeiten ein. Große Mengen lassen sich mit einem Rollstuhl nicht transportieren.

Ich liebe sie, diese Fahrten, ganz allein für mich, ohne fremde Hilfe. Die Vielfalt der Gärten und Balkone, der Wiesen und Felder, die an meinen Wegen liegen, bewundere ich immer wieder aufs Neue. Schade, dass die an mir vorbei rasenden Fahrräder und Autos, diese Pracht mit keinem Blick würdigen.

Das ist sie, meine neue kleine Welt.

Maria Eifrig, September 2016



online am 15. September 2017

Die Tasse und der Strohhalm, das Ende einer Liebe!

Wir lieben uns. Wir arbeiten zusammen, sind ein eingespieltes Team. Jeden Morgen bereitet sich Miss Ti einen Espresso Grande. Und wir, wir sind dabei – ich, ihre Lieblingstasse, und mein Geliebter, ein atemberaubend schöner Strohhalm. Sie taucht ihn in mich hinein, saugt vorsichtig an ihm und genießt Schlückchen für Schlückchen ihren Espresso Grande. Sie kann nicht ohne Strohhalm trinken, ich bin ihr zu schwer, ihr Arm hat nicht genügend Kraft, mich, gefüllt mit heißem Espresso, zum Mund zu führen.

Miss Ti sitzt im Rollstuhl. Will sie einen Espresso trinken, ist sie eine Weile beschäftigt. Espressopulver in mich, ihre Lieblingstasse, schütten, in die Küche rollen, Wasser  heiß machen, Handtuch als Transportschutz auf den rechten Oberschenkel legen, zurück in ihr Zimmer rollen, Wasser in mich gießen, meinen Geliebten in mich eintauchen, Espresso schlürfen und genießen.

Miss Ti  denkt daran, wie lecker ein Espresso ohne Strohhalm schmeckte.
„Ich will wieder ohne Strohhalm trinken!“
Mir wird ganz übel bei dem Gedanken. Will sie mir meinen über alles geliebten Strohhalm wegnehmen?

Wie jeden Morgen bereitet Miss Ti ihren Espresso Grande, in mir, ihrer Lieblingstasse. Statt mit meinen Geliebten, dem Strohhalm, trinkt sie direkt aus der Tasse. Ihre Lippen sind ganz weich, daran könnte ich mich gewöhnen. Sie trinkt eine Vierteltasse, dann lässt ihre Kraft nach, sie trinkt weiter mit meinen Geliebten. Von Woche zu Woche spüre ich meinen Geliebten immer seltener in mir, dann gar nicht mehr. Meine Tränen bringen ihn nicht zurück. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit mich von ihm zu verabschieden.

Miss Ti ist glücklich! Freudestrahlend genießt sie ihren Espresso Grande, aus mir, ihrer Lieblingstasse. „Er schmeckt viel besser ohne Strohhalm. Das tägliche Training hat sich gelohnt!“, erklärt sie jedem, der ihr neues Trinkverhalten bemerkt.

Maria Eifrig, September 2017



online am 25. August 2017

Ein Auto

Es ist so weit, ich bekomme mein Traumauto, einen BMW 320 Touring, 6 Zylinder, Ledersitze, Schiebedach, elektrische Fensterheber, Klimaanlage, dunkelblau metallic, funkelnagelneu – ein Traum oder?
Wie schnell ich mich an dieses Auto gewöhnt habe. Jetzt fahre ich es seit zwei Monaten und bin immer noch begeistert. Natürlich sieht man allmählich die ersten Gebrauchspuren, aber das bleibt nicht aus, wenn man den wöchentlichen Einkauf, Getränkekisten, Gartenabfälle und vieles mehr darin transportiert.
Morgen muss ich nach Pirmasens zu einem Kunden und darf mein Auto mal so richtig ausfahren.
Um 7:00 Uhr starte ich. Die Autobahn ist sehr voll, häufig „stop and go“-Verkehr, hinter Köln wird es leerer, dann fahre ich quer durch die Eifel. Hier macht Autofahren richtig Spaß. Die Autobahn ist streckenweise wie „leer gefegt“ und ich kann das Gaspedal ganz durchtreten. Eine Weile zeigt die Tachonadel mehr als 200 km/h an, zum ersten und bald zum letzten Mal. Noch nie bin ich so schnell unterwegs gewesen, nur Fliegen ist schöner.
Die restliche Strecke fahre ich normal und komme nach 4,5 Stunden wohlbehalten in Pirmasens an.

Fast 3 Jahre habe ich mein Traumauto gefahren, dann war der rechte Fuß nicht mehr in der Lage die Kupplung zu bedienen. Kurze Zeit ging Autofahren noch mit einem Automatik Fahrzeug, dann war es ganz vorbei.

Heute werde ich gefahren. 

Vor 14 Tagen habe ich mit dem Fahrdienst diesen Termin vereinbart. Kurzfristig geht nicht, will man den kostenlosen Fahrdienst der Stadt nutzen. Jetzt hat das Auto schon 30 Minuten Verspätung. Alle haben heutzutage ein Handy, aber keiner ruft an, wenn er nicht pünktlich ist. Vielleicht haben sie meine Nummer nicht, vielleicht … Endlich steht das Auto vor der Tür. Mein Rollstuhl wird fest gemacht und los geht’s.
Es ist wie bei einem Autorennen, Gaspedal bis zum Anschlag, permanenter Spurwechsel, Vollbremsung vor jeder roten Ampel.
Nur Fliegen ist schneller“, denke ich.
Ich bin froh als ich mein Ziel erreiche und das Auto verlassen kann.
„Wir haben es noch einigermaßen pünktlich geschafft“, meint der Fahrer.
„Schönen Nachmittag und bis zum nächsten Mal“, sagt er und ist weg.

 Maria Eifrig, April 2017



online am 28. Juli 2017

Rolli-Joggen – Teil 2

Das fängt gut an. Nach erfolgreichen Rolli-Joggen-Start fallen gleich die nächsten Einheiten aus: Dienstag, Treffen in der MS-Beratungsstelle,  Mittwoch, Termin beim Neurologen.

Ich warte sehnsüchtig auf das nächste Rolli-Joggen. Ich weiß selbst nicht warum. Ist es, weil ich mir beweisen will, auch ein Rollstuhlfahrer kann Joggen? Ist es, weil es ein Teil meines Alltags wird? Ist es, weil – ich weiß es nicht. Es geht mir gut dabei, das gefällt mir!

Freude strahlend rolli-jogge ich los. Wie immer sind Hundehalter*innen und Gesunden-Jogger*innen unterwegs. Eine Dreier-Gruppe kommt mir entgegen. Sie werfen beim Gehen ihre Arme in Richtung Himmel. Das kann ich nicht! Die rechte Hand steuert den Rollstuhl, der linke Arm stützt meinen schlaffen Oberkörper. Ich kann eine gute Sitzhaltung trainieren, tief ein- und ausatmen, meinen Kopf bewegen – nach rechts, nach links, vor und zurück. Ich kann meine Schultern bis zu den Ohren ziehen, meine Po-Backen – zum Stabilisieren der Blase – zusammen kneifen. Mehr fällt mir im Moment nicht ein.

Heute folge ich beim Sport einer Umleitung. Ich rolli-jogge zum Bäcker und kaufe Brötchen. Auf dem Nachhauseweg muss ich permanent den Duft der noch warmen Brötchen einatmen. Ich freue mich aufs Frühstück. Frische Luft macht hungrig! Und dieser Duft!!!

Es lebe der Sport!

Maria Eifrig, April 2017



online am 20. Juli 2017

Eine heiße Nummer

Es ist der 22. Juni, an sich kein besonderes Datum, heute aber der bisher heißeste Tag in diesem Jahr. Das Thermometer ist schon gegen 10 Uhr auf etwa 34°C geklettert. Das bringt so manchen zum Schwitzen, aber meine Figur aus Polyesterharz trotzt beständig dieser Hitze.
Den anderen um mich herum geht es genauso. Dafür hat schon unser Schöpfer/Erfinder/Erbauer gesorgt. Jeder von uns ist identisch, hat aber hübsch auf seinem ihm zugewiesenen Platz stehenzubleiben.
Man nennt uns auch die blaue Friedensherde. Die Idee dahinter ist:  „Alle sind gleich – jeder ist wichtig.“ Natürlich bin ich auch für Toleranz und ein friedliches Miteinander, aber trotzdem: Ich Daisy, bin ein besonderes Kunstwerk.
Ihr glaubt das nicht? Ich werde es euch beweisen. Natürlich unterscheide ich mich optisch nicht von den anderen, habe die gleiche ultramarinblaue Farbe, gleiche Größe, gleicher Guss.
Was mich dennoch auszeichnet: Ich stehe vor allen anderen in der ersten Reihe. Alle hinter mir fallen kaum auf, aber ich bin etwas Besonderes. Daher bin ich natürlich auch eher auf Fotos, Videos oder im Internet zu sehen als die anderen.
Ihr haltet mich vielleicht für eingebildet oder eitel. Ich finde das ungerecht. Für euch Menschen gibt es zahlreiche Schönheitswettbewerbe und Modeschauen. Warum dürfen nur Menschen modeln und auf den Catwalk und keine Schafe? Mein Traum ist es, entdeckt und berühmt zu werden.
Natürlich bin ich mit den anderen schon weit gereist. Wir standen in über 150 europäischen Städten auf Ausstellungen, u. a. in Brüssel, Wien und Berlin und ich immer vorne in der ersten Reihe.
Ich wurde in den ganzen Jahren jedoch nie besonders beachtet oder ausgezeichnet. Das betrübt mich, zumal ich nicht gealtert bin und mir die ganze Zeit über meine Topfigur erhalten konnte. Auch bei der Hitze sieht man mir nichts an. Keine Schweißperlen, die an mir heruntertropfen, kein Sonnenbrand, der mich entstellen könnte, keine Müdigkeitserscheinungen oder sonstige Anzeichen, die eine menschliche Modelkarriere beeinträchtigen würden.
Es ist aber noch nicht aller Tage Abend, wie ihr Menschen so schön sagt. Meine Zeit wird noch kommen.
Was an diesem Tag gegen 11 Uhr bei ca. 36°C aber dann kommt, ist zunächst eine Horde Fotografen. Das bin ich schon von zahlreichen Fotoreportagen über unsere blaue Herde gewohnt. Und dann entdecke ich sie. Die Frau, die in Deutschland schon seit Jahren Models entdeckt und sie berühmt macht: Heike Klamm. Schön wie eh und je tänzelt sie in einem luftigen Sommerkleidchen auf unsere Wiese und dann direkt auf mich zu. Die Fotografen laufen eifrig hinter ihr her und knipsen ununterbrochen. Aufgrund meiner Materialbeschaffenheit kann ich ihr natürlich nicht entgegenlaufen und bleibe in meiner Position.
Was hat sie vor? Genau bei mir bleibt sie stehen. Wird mein Traum jetzt endlich in Erfüllung gehen? Und werde ich von ihr als  schönstes Schaf Deutschlands ausgezeichnet? Beginnt an diesem heißen Tag die ersehnte Modelkariere? Was macht sie denn jetzt? Sie kramt in ihrer Handtasche einen Zettel mit der Nummer 1 hervor und klebt ihn mir auf den Rücken. Dann geht sie weiter zu drei  anderen meiner Artgenossen und versieht diese mit den Nummern 2, 3 und 4.
Ich wusste es, ich bin die Nummer 1.  Dieser heiße Junitag wird zu einem Wendepunkt in meinem Leben.
Was ich allerding nicht wusste war, dass Heike Klamm auf Promotion Tour war. Sie ließ sich auf der Landesgartenschau mit Kunstwerken ablichten und nummerierte nebenbei die blauen Schafe, die aufgrund von witterungsbedingten Beschädigungen ausgetauscht werden sollten.

Christa Borowski-Schmitt, Juli 2017



online am 07. Juli 2017

Rolli-Joggen – Teil 1

Im Winter habe ich viel gegrübelt. Ich suchte Ersatz für ein morgendliches Joggen. Heute wird gewalkt, aber wohin mit den Stöcken im Rollstuhl. So erfand ich das Rolli-Joggen. Ich liebe frische Luft, sie fühlt sich am Morgen sauber und unverbraucht an. 8:30 Uhr scheint mir eine gute Zeit zum Rolli-Joggen, noch den „inneren Bremser“ überwinden und ich kann beginnen.

Zum Glück hat der „innere Bremser“ heue verschlafen. Ich kann starten. Draußen begleitet mich ein kräftiger Wind. Mein Trainingsprogramm ist schnell erstellt: Eine halbe Stunde Rolli fahren, aufrecht sitzen, die Bauchmuskulatur arbeiten lassen und bewusst atmen. Anfangs klappt es gut mit dem Sitzen, dann streiken die schlaffen Bauchmuskeln. Immer häufiger muss ich meine Sitzposition korrigieren. Rolli-Joggen ist wie Gesunden-Joggen, ganz schön anstrengend.

Ich bin zufrieden, als ich durchgefroren nach Hause komme. Der Auftakt meines Rolli-Joggens ist geglückt. Wenn es mir gelingt, mein Trainingsprogramm 3 bis 4 Wochen durchzuhalten, gehört es zum Alltag wie Essen und Trinken und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich das Rolli-Joggen ausfallen lasse. Das ist mein Ziel.

Endlich! Ich gehöre wieder zu denen, die täglich etwas für ihre Fitness, ihre Gesundheit, für ein langes Leben tun.

Es lebe der Sport!

Maria Eifrig, April 2017

 

online am 12. Juni 2017

Allein!?

Allein, ich bin so allein. Keiner ist bei mir, hilft mir. Das ist gelogen, denn ich habe eine ständige Begleiterin. Sie ist immer an meiner Seite. Sie steht mit mir auf, geht mit mir ins Bett und schläft mit mir. Wir essen und trinken gemeinsam. Immer, immer ist sie da. Ich kann nichts, gar nichts ohne sie tun.

Sie sagt, sie liebt mich, will mich ganz besitzen. Meine Beine hat sie mir schon genommen. Mehr bekommt sie nicht. Ich bekämpfe sie mit meiner ganzen Kraft.

Manchmal, wenn sie mir weh tut, wünsche ich sie zum Teufel, aber sie geht nicht. Ob sie Freude am Quälen hat? Ich weiß es nicht. Sie antwortet nicht.

Ja, sie liebt mich, hat keine Angst vor meiner Wut. Ich liebe sie nicht! Ich wünsche mir so sehr, dass sie mich verlässt, vor mir davon läuft und nicht wieder kommt, die MS.

Maria Eifrig, Mai 2017

 

online am 02. Mai 2017

Rom, gut zwei Monate vor den Iden des Mars.

Nun sitze ich hier, die Sonne scheint mir in den Nacken. Die Signora aus dem zweiten Stock hat mich vor die Tür gesetzt, meinte, es sei fast Frühling, mit gut 10° Celsius und warmem Südwind der aus Sizilien hochströmt.

Rechts fahren die Sonntagsfahrer heraus aus der Stadt, Richtung Appia Antica oder auch Tivoli. Links von mir steigt ein Fremder aus einem silbernen Punto (armer Kerl, wer fährt schon freiwillig Punto in Italien), er ist kräftig gebaut, blasser Teint, also Tourist. Er schaut sich um, er schaut mich an, erschrickt – die normale Reaktion – seit ich mich vor einiger Zeit mit dieser Schnellbahn angelegt habe. Seitdem stehen meine Frontzähne dicht beinander und deutlich vor und schief und, ach ja, mein rechtes Auge fehlt.

Damals, mir fehlen ein paar Tage in der Erinnerung, Filmriß, muß mich wohl die Signora, eben die aus dem zweiten Stock, gepflegt und gehegt haben. Ich konnte kaum laufen, hatte dicke Kopfschmerzen, das Essen fiel schwer, aber nach ein paar Tagen kam mein Lebenswille zurück. Nur noch sechs Leben, aber immerhin. Es machte schnell die Runde, mein Rendez-Vous mit der Straßenbahn und mein Renommee hier im Viertel stieg sprunghaft an. Was aber passiert jetzt? Der dicke Turri dreht sich zu mir, spricht mich an, in einem schrecklichen Slang, wohl Katzensprache à la tedesca. Ok, ok, ich miaue, heische um Aufmerksamkeit, sortiere schnell mein dunkles Fell und hebe stolz meinen Schwanz.

In seinen Augen, bebrillt, aber er hat davon noch zwei, ist etwas, ein kurzes Aufblitzen; sehe ich da wirklich eine wunderschöne rote Tabbykatze? Nein, kann nicht, ich halluziniere anscheinend in der Hitze des Januars. Der Turri, ich nenne ihn mal Marco, geht weiter, ein nettes kurzes Arrividerci im Vorbeigehen.

Jetzt ist es Zeit, höchste Zeit (Eisenbahn geht mir so schwer über die Zunge), da sich die Tür zum Hinterhof öffnet. Meine Gelegenheit zur Nacht, ohne dieses anstrengende Fassaden-Hochklettern und an den brüchigen Wasserrinnen entlang, bis zur Gartenterrasse der alten Signora, eben der aus dem zweiten Stock. Dort nächtige ich oft, auf einem roten Diwan erlesenster Stoffe; nein, es sind alte, verwaschene Sitzbezüge, aber die Vorstellung von Samt und Seide macht es doch gleich angenehmer. Die Signora schimpft immer mit mir, wenn sie mich dort erwischt, aber warum steht dort jeden Tag ein Schälchen mit frischem Wasser – wenn nicht für mich?! Es wird Nacht . . .

Tags drauf, Montag, business as usual, die Stadt, meine Stadt, ROMA, füllt sich mit der arbeitenden Schicht. Hätten unsere Kommunisten ein wenig mehr Marx gelesen, dann gäbe es auch mehr Platz für Katzen.

Aber in den heutigen Zeiten, it’s Berlusconi-Bestechungs-Time, nun, heute sind die Straßen voll mit Motocyclista und vielen Fiats – und vielen S-Bahnen. Ich verbringe den Tag auf dem leise surrenden Generator für die Tiefgarage gegenüber, vibrierend und warm. Viele Menschen gehen und kommen, hübsche Signoras, Machissimos in ihren Alfas, die verrückten Pedaleros auf ihren Vespas. Es wird ein schöner Tag werden, obwohl ich nur die Hälfte sehe, sei’s drum, besser als nichts. Neben mir liegt meine kleine Tochter, schnurrt und lässt es sich gut gehen; nachher müssen wir noch was zum Abend organisieren.

Der Nachmittag bringt Märzwärme in mein Viertel, nichts desto trotz, meine Suche nach Futter darf /muß jetzt beginnen. Letztens beim Fleischer, fast wäre ich im Kälteraum eingeschlossen worden, gab es allerlei Leckeres – aber mit nur sechs Restleben wird auch eine Katze wie ich vorsichtiger. Was ist das?! Rund um meinen Stammplatz, Via Bixio, riecht es nach frischem Perloro con vitello, Katzenleckerli, die Packung für 0,42€ im Supermarkt gegenüber, eigentlich unerreichbar.

An der Laterna steht Marco angelehnt, zu meiner Höhe eine bereits geöffnete Schachtel Perloro. Kein Streß mit den Pfoten zum Öffnen, alles futterbereit. Seine Augen funkeln mich an, laden ein zu diesem Häppchen. Aber ich sehe noch etwas.

Die rote Tabby in seinen Augen grinst mir zu und wünscht meiner Tochter und mir „buon’appetito“ – im Sommer werde ich doch wohl mal in Germania Urlaub machen . . .

Markus Korsmeier, Februar 2016 



online am 27. April 2017

Keine Wahl

Es gibt ein Bild des Künstlers Claude Lorrain von 1660. Abgebildet ist die antike, mythische Landschaft Arkadien. Im Hellenismus galt Arkadien als Ort des Goldenen Zeitalters, wo die Menschen unbelastet von mühsamer Arbeit und gesellschaftlichem Anpassungsdruck in einer idyllischen Natur als zufriedene und glückliche Hirten lebten. Dieses Bild hat mich inspiriert, mich gedanklich und schriftlich mit meiner Erkrankung auseinander zu setzen und zwar ketzerisch, irritierend und widersprüchlich. Und so setze ich mich nun zwischen zwei Stühle.

Es fiel mir nicht schwer, mich in dieser Szenerie zu sehen. Ich weiß, es klingt grotesk, aber ich lebe in Arkadien. So sehe ich in dem Bild Ruinen, eine Brücke, im Hintergrund ein Meer mit Schiffen. Im Vordergrund ein Flöte spielender Jüngling, eine lauschende Frau und ein Zelt, alles umrahmt von einer idyllischen, heroischen Landschaft. Genau so lebe ich im Moment, ich widme mich der Muße und der Liebe, meine Vergangenheit ist eine Ruine, zu der eine schmale, alte Brücke hinüberführt. Das Zelt ist meine gegenwärtige, sehr fragile, wenig Schutz bietende Behausung. Das Meer streckt sich unendlich bis zum Horizont und die Schiffe im Hintergrund  segeln in diese Unendlichkeit! Das ist der Tod, aber der kann noch warten.

MS gilt, das ist schulmedizinischer Allgemeinplatz, als schwere Krankheit, unheilbar und leidvoll. Die Betroffenen sind bemitleidenswerte, elende Geschöpfe, taumeln, sabbern und pinkeln in die Hose. Die Welt scheint einen gerade noch zu dulden.

Es ist wahr, die Krankheit ist kein Pappenstiel und hat viele Gesichter. Ich kann auch nur für mich sprechen. Sie hat mir viel genommen und wird es vielleicht noch tun. Aber sie hat mir auch einiges gegeben, was mir ein gesundes Dasein so nicht beschert hätte. Das ist irgendwie doof, aber eben nicht zu ändern. Ja, ich lebe in einem Garten, brauche mich nicht anzupassen, brauche nicht (mehr) mühsam arbeiten, lebe in den Tag hinein und genieße meine Zeit, frei von Verantwortung und Selbstzweifel. Ich quäle mich nicht mit dem Gedanken an morgen, denn eines Tages werde ich sterben, aber an allen anderen Tagen nicht. Eine weise Klosterfrau hat einmal gesagt, dass allein und nur die Angst alles unerträglich macht. Ich habe keine mehr, warum weiß ich nicht, aber vermutlich eine Folge der Demyelinisierung.

Aber eines sei allen, nicht-betroffenen Menschen auch gesagt: Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich diese Landschaft gerne wieder verlassen, denn all‘ das, was mir an Schönem widerfährt, hat auch einen sehr hohen Preis. Kein kranker oder behinderter Mensch ist dies gern. Er (oder sie) hat nur keine andere Wahl, auch wenn es in den Medien manchmal so vermittelt wird, weil Leid nicht oder nur schwer ertragen wird. Wenn ich es zusammenfasse, lautet mein Resümee: Auch in der Hölle wachsen Blumen!

Marius Schmieda

 

online am 25. April 2017

Ein überflüssiger Dialog

Ein Drama in einem Teilchen

dramatis personae: (lat. „Personen der Handlung“)

Herr Absolut, ca. 50 Jahre alt
Herr Nicht-Wirklich, ca. 50 Jahre jung

Herr Absolut: „Ich bin absolut“
Herr Nicht-Wirklich: „Ich bin nicht wirklich“

Herr Absolut: „Wirklich?“
Herr Nicht-Wirklich: „Absolut nicht“

Herr Absolut: „Wirklich nicht?“
Herr Nicht-Wirklich: „Absolut“

Herr Absolut: „Also nicht wirklich absolut!?“
Herr Nicht-Wirklich: „Nein, absolut nicht wirklich!“

Herr Absolut: „Wirklich?“
Herr Nicht-Wirklich: „Absolut“

Herr Absolut: „Das ist ja wirklich absolut“
Herr Nicht-Wirklich: „Nicht wirklich.“

Marius Schmieda



online am 19. April 2017

Das Buch

Es war einmal eine Gruppe MS-Betroffener. Sie träumten davon ein Buch zu schreiben. Sie wollten allen mitteilen, dass auch sie, trotz Krankheit, mitten im Leben stehen. Sie verfassten Kurzgeschichten und Gedichte, korrigierten, ergänzten oder formulierten neu, solange bis eine variationsreiche und aussagekräftige Textsammlung entstanden war. Jetzt fehlte nur noch ein verkaufsfördernder Titel. Sie redeten sich die Köpfe heiß, hatten so viele Ideen, aber nichts worauf sie sich einigen konnten. Plötzlich tauchte ein Foto auf, das, gemeinsam mit einem im Hintergrund kursierenden Titel, alle überzeugte. Das Buch konnte in Druck gehen.

Da sitzen sie nun, die „Schreiberlinge“, mit ihrem Buch, drehen und wenden es, bestaunen Vorder- und Rückseite, blättern hierhin und dorthin, betrachten jede Seite ausführlich, lesen sich gegenseitig ihre geschriebenen Worte vor, können gar nicht genug bekommen. Je länger sie ihr Werk ansehen, umso mehr hoffen sie berühmt zu werden.

Die erste Aktion, ein V.I.P. zu werden, ist geglückt. Das Buch ist im Internet angekommen. Google kennt es, ergo, kann jeder es finden:

www.google.de     suche mit     Spuren im Gehirn oder MS-Betroffene schreiben

Maria Eifrig, November 2016



online am 19. April 2017

Der Marienkäferschwarm

Es ist Sonntag, Anfang Oktober und die Sonne scheint. Sie scheint nicht nur, nein, sie ist richtig warm, knapp 20°C. Nichts kann mich aufhalten, ich muss nach draußen, eine Runde mit meinem Rolli drehen. Ich fahre um das Feld, das hinter unserem Hause liegt. Der Bauer hat den Acker frisch gepflügt und irgendwas ausgesät, das die Vögel in vollen Zügen genießen.
Ich liebe frisch gepflügte Felder. Die Erde sieht so sauber und aufgeräumt aus. Dadurch, dass es lange nicht geregnet hat, schimmert sie leicht grau.
Den größten Teil des Feldes habe ich umfahren, als plötzlich eine dunkle Wolke auf mich zu geflogen kommt.
„Was ist das?“
Ich spüre etwas im Gesicht und in den Haaren.
„Igitt, das wird immer schlimmer.“
Ich schaue an mir runter. Auf meinem braunen Poncho wimmelt es von roten, schwarzgepunkteten Marienkäfern. Eigentlich mag ich Marienkäfer, aber so viele auf einmal habe ich noch nie erlebt, das ist wie in einem Horrorfilm. Mit Höchstgeschwindigkeit rase ich davon. Nach ca. 20  Metern ist der Spuk vorbei. Ich halte an, schüttele die unerwünschten Mitreisenden von mir ab und setze meinen Ausflug fort. Nach 10 Minuten kommt erneut eine dunkle Wolke angeflogen. Erfreulicherweise fliegt sie an mir vorbei. Den Rest meiner Tour kann ich ohne Zwischenfall genießen.
Im Internet finde ich folgende Erklärung: Im Herbst sammeln sich Marienkäfer, oft scharenweise und suchen gemeinsam kühle, frostfreie Räume für ihre Winterruhe, damit sie im Frühjahr wieder Blattläuse jagen können.

Maria Eifrig, Oktober 2016



online am 17. April 2017

Der Mount Everest

Als sie mit ihrer Arbeit begann, fühlte sie sich, als müsste sie den Mount Everest besteigen.
Der Aufstieg war nicht immer leicht, oft mühsam, manchmal beschwerlich, aber es ging voran.
Sie erreichte ihn, den Gipfel.

Von jetzt an war es einfacher, denn es ging bergab.
Es wurden immer weniger Jahre bis zum nächsten Ziel,
dem Leben ohne Arbeit, ohne Stress, …,  dem Leben danach.
Per heute sind es noch Tage, aber bald sind es Stunden
und dann fangen sie an zu laufen die letzten Minuten und Sekunden.

Maria Eifrig, Juli 2016



online am 16. April 2017

Der Parker Kugelschreiber

Jetzt schlummere ich hier seit einigen Jahren so vor mich hin. Meine Kulimine schreibt längst nicht mehr. Gemeinsam mit einem Lineal, einem Anspitzer, einem Radiergummi, einem Textmarker und einigen Buntstiften wohne ich in einem Faulenzermäppchen. Niemand benötigt unser Können. In der obersten Schublade eines Rollcontainers, in dessen hinterster Ecke ist unser Platz. Früher war das anders. Ob zu Hause oder in der Uni, es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht seitenweise leeres Papier füllte… Eine Zeit lang war ich viel unterwegs. Das Faulenzermäppchen bekam einen Stammplatz in einem schwarzen Aktenkoffer aus Leder – ein Geschenk eines zufriedenen Kunden der Lederwarenbranche. Wir begleiteten unsere Besitzerin quer durch Deutschland. Sie schulte Mitarbeiter von Firmen im Bereich der EDV… Computer kamen immer häufiger zum Einsatz und stahlen mir meine Aufgaben. Ich wurde nur noch zum Schreiben von Notizen verwendet und lag viel nutzlos herum. Dann wurde alles anders. Meine Besitzerin erkrankt an Multiple Sklerose. Sie sitzt schon nach 2 Jahren im Rollstuhl. Der Koffer samt Inhalt geraten in Vergessenheit. Eines Tages wird das Faulenzermäppchen geöffnet. Meine Tinte ist vertrocknet. Ich bin nicht zu gebrauchen. Das Stifteetui verschwindet mit mir und den übrigen Utensilien in der Containerschublade.

Ein Wunder geschieht. Ich verlasse Rollcontainer und Faulenzermäppchen, bekomme eine neue „Schneider“ Mine, liege griffbereit auf einem kleinen runden Tisch und darf wieder schreiben – nicht so viel wie früher, aber ich werde wieder gebraucht.

P.S. Mein Parker, er war, ist mein ganzer Stolz. Seine Anschaffung war keine Kleinigkeit für ein schmales Studentenbudget. Heute benutze ich ihn wieder regelmäßig und liebe ihn genauso wie früher.

Maria Eifrig, März 2016

 


online am 15. April 2017

Ein ganz normaler Wochentag!

Es ist 6:30 Uhr. Der Pflegedienst kommt. Kallisto, meine Katze, will noch nicht aufstehen. Erst im letzten Moment springt sie aus dem Bett und will nach draußen. Die Morgenpflege kann beginnen. Endlich sitze ich fertig angezogen im Rollstuhl. Noch Haare kämmen und Zähne putzen. Die Morgentoilette ist beendet. Es folgen 20 Theraband-Einheiten für jeden Arm als Kräftigungs- und Streckübung. Damit ich das nicht vergesse, habe ich ein Theraband direkt neben dem Waschbecken anbringen lassen.

Beide Katzen warten vor der Terrassentür und wollen ihr Futter. Kallistos Mitbewohner, der schwarze Panther, hat mal wieder die ganze Nacht draußen verbracht. Beide Tiere lassen es sich schmecken. Der nächtliche Rumtreiber legt sich anschließend ab. Kallisto, meine kleine Diva, will wieder nach draußen.

Bevor der Fahrdienst kommt, habe ich noch Zeit für eine weitere morgendliche Trainingseinheit. Mit meinem „Motomed“ (Bewegungstrainer für Arme und Beine) gönne ich meinen Armen 15 – 20 Minuten Bewegung.

Der Fahrdienst kommt. Es geht zur Arbeit.

Im Büro müssen zunächst die elektrisch funktionierenden Rollos geöffnet werden. Damit verbinde ich meine 3-te Übungseinheit. Den Abstand zwischen Schalter und Hand wähle ich großzügig, um die Reichweite der Arme zu verbessern. Immerhin habe ich durch diese Übung erreicht, dass ich wieder Lichtschalter ein- und ausschalten und Wasser in der Mikrowelle heiß machen kann. Den löslichen Kaffee habe ich mir schnell wieder abgewöhnt, ich fand ihn ungenießbar. Jetzt bin ich Teetrinker. Tee ersetzt zwar keine dampfende, frische Tasse Kaffee, aber mittlerweile habe ich mir ein kleines Teesortiment zugelegt und weiß ihn zu schätzen. Am wichtigsten ist: Ich kann Tee ohne fremde Hilfe zubereiten, was gleichzeitig einen leckeren Geschmack impliziert.

Die „richtige“ Arbeit kann beginnen. Ich starte meinen PC und die morgendliche Datensicherung. Mein Arbeitsplatz ist so eingerichtet, dass alles, was ich zur Arbeit benötige, für mich erreichbar ist. Mit meiner Ergotherapeutin haben wir so lange  getüftelt, bis alles optimal für mich platziert war.

Das Telefon geht: Einige Kunden haben Probleme beim Bedienen ihrer Software und bitten mich um Hilfe. So komme ich zu meiner 4-ten Trainingseinheit: Arbeit am Computer. Tastatur und Mausbedienung halten meine Finger ganz gut in Bewegung. Heute kann ich allen Kunden schnell helfen. Manchmal dauert es länger, bis ich eine Lösung finde. Richtig schwierig wird es erst, wenn keine Lösung per Telefon möglich ist. Dann lasse ich mir die Daten vom Kunden kommen und teste sie auf meinem Rechner. Falls nötig, kann ich die Hotline des Softwareherstellers um Unterstützung bitten. Glücklicherweise sind diese Fälle recht selten. Meistens kann ich durch geschicktes (mehr …)

Maria Eifrig, Mai 2015